WingTsun

Die Sprachen des Kleinhirns

Am Wochenende 19./20. Januar findet nächstes Jahr ein Aufbaukursus zum Thema „WT für ältere Menschen“ mit Sifu Samuel Lutz in der Trainerakademie in Heidelberg statt. Wer einsteigen möchte in diesen Themenbereich, kann dies am 1. uns 2. Juni in Heidelberg tun. Dieser Fortbildungslehrgang eignet sich nicht nur für diejenigen, die solche Kurse in ihrer Schule anbieten möchten. Er kann auch als Weiterbildung für sich selbst mit viel neuem Wissen und Verständnis betrachtet werden. Einen kleinen Vorgeschmack bietet der nachfolgende Artikel, in dem Sifu Samuel die Rolle unseres Kleinhirns beim Bewegen- und WingTsun-Lernen aufzeigt. Mögliche Fragen dazu lassen sich sicherlich am obengenannten Januar- bzw. Juniwochenende klären… Seid dabei!

Für das Entwickeln von Bewegungskompetenzen und das Abspeichern von ergänzungsbedürftigen Funktionen (Kursbuch: Inneres WingTsun, 2. Auflage, S. 50) ist unser Kleinhirn zuständig. Da das Kleinhirn unbewusst arbeitet und sich deswegen unserem Denken entzieht, stellt sich die Frage: „Wie kann man es trotzdem erreichen kann? Welche Sprachen versteht es?“ Hier findest du einige Tipps und Tricks, wie du das Bewegungslernen deiner Schüler unterstützen kannst.

Machen wir einen Ausflug ins Zentrale Nervensystem, genauer ins Kleinhirn, und schauen uns einmal genau an, wie es lernt, arbeitet und welche Sprachen es versteht. Zu diesem Zweck lassen wir WingTsun erst einmal beiseite.

Die zentrale Bedeutung des Gleichgewichts für das Kleinhirn

In meiner Arbeit zur Sturzprävention habe ich mich intensiv mit dem Thema Gleichgewicht beschäftigt. Der Mensch verfügt über genetische Grundprogramme, sogenannte Gleichgewichtsreaktionen, die bei allen gesunden Menschen mehr oder weniger gleich ablaufen. Man unterscheidet sog. Equilibriumsreaktionen (Spannungsanpassungen in der Muskulatur), Stellreaktionen (Ausgleichsbewegungen) und schließlich Schutzreaktionen (z.B. den Kreuzschritt) Diese Programme laufen unbewusst ab, sobald wir Gefahr laufen, das Gleichgewicht zu verlieren. Wir müssen nicht darüber nachdenken, was zu tun ist, wenn wir aus dem Gleichgewicht kommen. Die rettenden Ausgleichsmaßnahmen werden durch das Kleinhirn in Zusammenarbeit mit den Muskeln, Faszien, dem Tastsinn, Propriozeptoren, Gleichgewichtssinn, Sehsinn automatisch durchgeführt. All diese Aktionspartner können wir im Weiteren der Einfachheit halber als sensomotorisches System zusammenfassen. Das Bewusstsein, also das Großhirn, wird erst sekundär über das Geschehene informiert, wenn alles Notwendige bereits erledigt ist. Damit das Kleinhirn diese unglaubliche Leistung innerhalb von Millisekunden vollbringen kann, hat es eine eigene Direktverbindung zum sensomotorischen System. Eine Art Autobahn, auf der Informationen mit der unglaublichen Geschwindigkeit von 120 m/s, was 432 km/h entspricht, vom Kleinhirn zum sensomotorischen System und zurück gelangen kann. Geht man von einer Distanz von ca. 1,70 m zwischen dem Kleinhirn und Sensoren bzw. den Muskeln im Fuß aus, die die Ausgleichsreaktionen ausführen, wären bis zu 35,3 Anpassungen pro Sekunde möglich.

Ein Gleichgewichtsverlust kommt meist unerwartet. Trotz der unglaublichen Verarbeitungsgeschwindigkeit reicht diese allein nicht aus, um erfolgreich stehen zu bleiben. Ermöglicht wird dieses Kunststück erst aufgrund von vorgefertigten motorischen Programmen, wie dem Kreuzschritt, die bereits im Kleinhirn gespeichert sind. Würden diese Programme stereotyp ablaufen, also immer gleich, würden wir trotzdem meistens hinfallen, denn die Art und Weise, wie wir das Gleichgewicht verlieren, ist sehr unterschiedlich. Jeder Stolperer oder Ausrutscher ist einzigartig. Die Umwelt mit all ihren Komponenten (Lichtverhältnissen, Bodenbeschaffenheiten, -festigkeiten, -neigungen, akustischen Ablenkungen usw.) liefert die Anforderungen, das Ergänzungsbedürftige, an die das motorische Programm (Kreuzschritt) jedes Mal individuell angepasst werden muss.

Ermöglicht wird diese Anpassung an die jeweilige Situation einzig und allein durch die unglaublich effiziente Zusammenarbeit zwischen dem sensomotorischen System und dem Kleinhirn.       

Was hat dies nun im WingTsun mit der Optimierung des sensomotorischen Lernens unserer Schüler zu tun?

GM Kernspecht und Prof. Tiwald betonen beide, dass Techniken nicht eins zu eins in den Kampf zu übertragen seien. Bewegungen wie BongSao, TanSao und Co. sind als ergänzungsbedürftige Funktionen zu verstehen, die – wie der Kreuzschritt bei der Gleichgewichtsreaktion – an die jeweilige Situation angepasst werden sollen. Bong, Tan und Co. sind also ähnlich wie der Kreuzschritt und müssen auf dieselbe Weise im Kleinhirn angelegt und gefestigt werden.

Aus neurophysiologischer Sicht betrachtet, dient das ChiSao-Training der Einpflanzung solcher Funktionen im Kleinhirn. Sind diese Bewegungsprogramme durch unzähliges Wiederholen irgendwann einmal fest im Kleinhirn gespeichert, können sie bei einem Angriff dank der blitzschnellen Zusammenarbeit zwischen Kleinhirn und dem sensomotorischen System an die jeweilige Situation angepasst werden, genau gleich wie der Kreuzschritt.

Das Kleinhirn rettet uns, meldet das Geschehene an unser Bewusstsein, das dieses reflektieren kann. Das ist die unbewusste Kompetenz, wie wir sie im ReakTsun anstreben und die durch achtsames und neutrales Beobachten reflektiert und begleitet werden sollte. Neurophysiologisch ausgedrückt kann man sagen, das Kleinhirn führt das Bewegen unter achtsamer Kontrolle des Großhirns aus, das jederzeit die Kontrolle übernehmen könnte, wenn die Achtsamkeit genügend entwickelt ist.

Wir wissen nun, dass wir im Kleinhirn verschiedenste Bewegungsprogramme bzw. ergänzungsbedürftige Funktionen anlegen müssen. Um dies effizient bewerkstelligen zu können, müssen wir zwei Fragen beantworten:

  • Wie lernt das Kleinhirn?
  • Welche Sprachen versteht das Kleinhirn und welche nicht?

 

Wie lernt das Kleinhirn?

Wiederholen, ohne zu wiederholen.

Wir lernten als Kleinkind, uns aus dem Vierfüßlerstand auf die Füße zu stellen und loszutapsen, offen für alles, getrieben durch eine unbändige Neugier und dem Verlangen die Welt zu erkunden. Wir fielen unzählige Male hin und standen wieder auf. Zum Glück waren wir zu diesem Zeitpunkt noch völlig befreit von Begriffen wie Erfolg, Misserfolg und Leistungsdruck – zumindest, was motorisches Lernen anging.

Würden Kleinkinder mit dem gleichen Leistungs- und Statusdenken an die Herausforderung des Gehenlernens herangehen, mit dem wir als Erwachsene z.B. WingTsun lernen – sie würden auf allen Vieren bleiben. Sie kennen keine Frustration, keine Versagensängste, keinen Leistungsdruck und kein Ego. So probieren sie einfach aus, fallen hin, stehen erneut auf und lernen aus den Fehlern, ohne von ihnen emotionell berührt zu werden. Die so gesammelten Erfahrungen ermöglichen das Lernen und ergeben mehr und mehr die Bewegungskompetenzen.

Als WingTsun-lernende-Erwachsene sind wir leider oft mehr daran interessiert, möglichst schnell den nächsten Grad zu erreichen, statt daran, echte Bewegungskompetenzen zu entwickeln. Uns fehlt die kindliche Neugierde, die ein zehntausendfach besserer Lehrer ist als das Leistungsdenken.

Um Bewegungskompetenzen zu entwickeln, gilt also: weg mit dem Leistungsdenken, weg mit dem Ego und her mit neugierigem scheinbar ziellosen Ausprobieren und Entdecken. Wie ein Sprichwort so schön sagt: „Aus Fehlern lernt man.“  
 

Welche Sprachen versteht das Kleinhirn und welche nicht?

Wollen wir das sensomotorische Lernen bei unseren Schülern optimieren und dafür sorgen, dass Tan, Bong und Co. möglichst effizient als ergänzungsbedürftige Funktionen im Kleinhirn abgespeichert werden, lohnt es sich zu wissen, welche Sprachen das Kleinhirn versteht – und welche nicht:         

Das Kleinhirn versteht KEINE gesprochene Sprache

Sprache wird lediglich vom Bewusstsein, also vom Großhirn, verarbeitet. Einen Schüler beim ReakTsun- oder ChiSao-Unterricht mit unzähligen Hinweisen zuzutexten oder ihm immer wieder zu erklären, was er falsch macht, ist völlig sinnlos. Das Kleinhirn wird unsere Anweisungen nicht verstehen. Dies frustriert den Schüler und er denkt, er wäre zu dumm, um es zu verstehen. Und auch der Lehrer wird frustriert sein, da seine „redlichen“ Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt sind.
 

WICHTIG: Das Kleinhirn versteht KEINEN SCHMERZ!

Dem Schüler jedes Mal eine reinzuhauen, wenn er etwas falsch macht, in der Annahme, dass der Schmerz ihn lehren werde, nützt überhaupt nichts. Im Gegenteil, Schmerzenzufügen ist fürs Lernen sogar hochgradig kontraproduktiv. Schmerz führt zu Stress und Stress zur Ausschüttung von Adrenalin und anderen Stresshormonen. Diese blockieren die kognitiven Fähigkeiten total. Die bewusste Reflexion der Bewegung durch das Großhirn wird unterbunden und so fehlt dem Kleinhirn die Rückmeldung, die für die Weiterentwicklung unabdingbar wäre.

Wenn man sagt, ChiSao sei kein Kampf, bedeutet dies nicht, dass ChiSao-Fähigkeiten zum Kämpfen ungeeignet seien. Es bedeutet, dass ChiSao-Training nicht primär kämpferisch unterrichtet und geübt werden soll, um einen optimalen Lerneffekt im Kleinhirn zu erzielen.

Schmerz ist entgegen der weit verbreiteten Meinung also FAST nie ein guter Lehrer, sondern oft sogar der Grund, warum etwas lange Zeit NICHT oder gar NIE gelernt werden kann!
 

Sprachen, die das Kleinhirn versteht

Aufgrund seiner Hauptaufgaben – Erhalt des Gleichgewichts und Verarbeitung von 40 mal mehr Input als Output – versteht das Kleinhirn zwei Sprachen:

a. Gleichgewicht
Der Erhalt des Gleichgewichts ist die eigentliche Hauptaufgabe des Kleinhirns (s.o.). Da ein Schubser das Gleichgewicht mehr stört als ein Schlag, sollte man ChiSao-Angriffe speziell am Anfang mehr als Schubser üben, anstatt als Schlag. Vielleicht wurde das von unseren Großmeistern intuitiv schon früher verstanden, weshalb wir im ChiSao mit Handflächenstößen anfangen (die eher schubsend als schlagend sind) und nicht mit Fauststößen.

b. Gezielten sensorischen Input
Das Kleinhirn verarbeitet 40 mal mehr sensorischen Input, als es an Output ausgibt (s.o.). Um dem Kleinhirn effizientes Lernen zu ermöglichen, ist es daher wirkungsvoll, dem Schüler vermehrt zu ermöglichen, Bewegung zu spüren und zu erfahren. Am besten eignet sich dazu ein gezieltes Führen – ein Bewegen erfahren durch Mitbewegendürfen.

Wenn ihr mehr darüber erfahren wollt, wie das Kleinhirn und somit das motorische Lernen funktionieren und wie ihr den Schüler noch besser auf seinem Weg unterstützen könnt, so empfehle ich euch die Wochenend-Schulung „WingTsun für ältere Menschen“ zu besuchen. Dort erarbeiten wir diese Inhalte gezielt in Theorie und Praxis. Der nächste Kursus findet am 01./02. Juni 2019 in Heidelberg statt. Ich würde mich freuen, euch dort zu sehen. Diejenigen, die das Ganze vertiefen möchten, sehe ich schon am 19./20. Januar in der Trainerakademie in Heidelberg. Bis dahin!

Strahlende Gesichter bei den Kursteilnehmer/inne/n vom letzten Jahr.

Text: Samuel Lutz, 4. HG
Fotos: fotolia/hm