Editorial

WingTsun passt sich der Gefahr an

Früher war WingTsun ein Mittel für Widerstandkämpfer, heute ist es eine moderne Selbstverteidigung. Großmeister Dr. Oliver König erklärt, welche Schwerpunkte Anfänger im Training legen sollten.

Früher: Wing Tsun als Mittel für Widerstandskämpfer

Die Entstehung des Wing Tsun geht zurück auf das alte China, genau auf die Quin-Dynastie (1644 - 1911). In dieser Zeit bildeten sich Geheimgesellschaften gegen die herrschende Klasse (Mandschuren). Diese nutzten KungFu, um junge Leute anzuwerben und für ihre Sache zu gewinnen und natürlich auch, um ihren jeweiligen KungFu-Stil als Kampfmethode für ihren Freiheitskampf einzusetzen. Erstmal mussten die Schüler aber als Gedulds- und Charakterprobe eine lange Phase durchlaufen, in der sie keine wirksamen Techniken erlernten, sondern hauptsächlich Formen übten, die anfangs sehr viele Defensiv- und nur wenige effektive Angriffstechniken enthielten.

Das galt selbst für das Wing Tsun (Wing Chun, Ving Tsun). Sehen wir uns im WingTsun die SiuNimTau und die ChamKiu-Form (und die zugehörigen Partnerformen) an, so werden Schläge meist zum Brustkorb ausgeführt, der Ellbogen wird meist eng am Köper nach vorn geschoben, um eine Überkreuzung mit dem gegnerischen Arm zu erreichen.

Erst die höheren Formen wie BiuDjie und Holzpuppe und deren Anwendungen beinhalten hochwirksame Techniken wie zum Beispiel Handkantenschläge gegen Hals, Ellbogen, Fingerstiche in die Augen etc.

Es hieß ja auch: „Die BiuDjie verlässt nicht das Haus!“

Die effektive Kampffähigkeit stellte sich also erst nach längerer Zeit ein.

 

 

Heute: WingTsun als moderne Selbstverteidigung

Der Anspruch an eine moderne Selbstverteidigung ist, dass sie im Alltag funktioniert. Sowohl der Schüler als auch die Schülerin, die bei der EWTO zu lernen anfangen, erwarten sich, dass die versprochene Selbstverteidigung auch funktioniert, und dies in kürzester Zeit und nicht erst nach 10 Jahren.

Auch die äußeren Umstände haben sich verändert. Phänomene, wie z.B. die sexuellen Übergriffe am Silvesterabend in Köln 2015/16, haben gezeigt, dass die Selbstverteidigungs-Situation komplexer und schwieriger wird.

Hier einige Beispiele, welche Situationen heute viel mehr geübt werden müssen, da sie in der Praxis viel häufiger vorkommen:

  • Verteidigung gegen mehrere Angreifer
  • Verteidigung und Verhalten gegen Angriffe mit Klingenwaffen, Äxten, langen Stangen etc.
  • Einsatz von Behelfswaffen gegen Angriffe mit Hieb- und Stichwaffen
  • Verteidigung gegen einen oder mehrere Gegner, welche auf das am Boden liegende Opfer eintreten.
  • usw.

Deshalb sind die modernen EWTO-Programme auch so aufgebaut, dass auf die sofortige Verteidigungsfähigkeit des Schüler größtes Augenmerk gelegt wird.

Der Schwerpunkt liegt am Anfang also nicht auf dem präzisen Erlernen der Formen, was wertvolle Zeit kostet und auf Kosten des Selbstverteidigungstrainings geht. Heutzutage werden Techniken und Situationen geübt, die zum sofortigen Erfolg führen und dem Schüler einen schnellen Schutz auf der Straße gewährleisten.

Das heißt aber keinesfalls, dass Formen sinnlos sind! Im Gegenteil! Richtig geübt, führen sie zu einer besseren Körpermechanik – dies dauert allerdings länger.

Deshalb: Anfangs Schwerpunkt Selbstverteidigung, später Perfektionierung der Fähigkeiten, z. B. durch Formentraining usw.

Ein wichtiges Mittel neben der technischen Basis (4 Blitze, Anti-Überfall-Programm, Verteidigen am Boden) für den Anfänger sind Schlag- und Trittdrills, mit denen er schnell eine gewisse Grundstruktur bekommt, in denen aber auch die obigen Inhalte eingebaut werden können. Die Drills verhelfen nicht nur zu besseren Angriffen, die den WingTsun-Anwender im Selbstverteidigungsfall ungenießbar machen, sondern gewöhnen ihn auch an kräftige Angriffe und er kann sich Stück für Stück darauf einstellen.

Zur Strukturbildung sollten auch Zieh- und Druckübungen nicht fehlen, da sie zu schnelleren Ergebnissen führen.
 

Dilemma des modernen WingTsun-Lehrenden (Meisters, Lehrers und Ausbilders):

Effektive Selbstverteidigung contra Verletzungsgefahr

Leider ist die effektive, schnelle Selbstverteidigung gegen einen oft größeren und körperlich stärkeren Gegner nicht so einfach, wie sich der Laie das vorstellt. Durch Filme, Medien etc. ist oft das Bild von der kleinen, zierlichen Frau, die dem dreimal so schweren und durchtrainierten Gegner einfach den Arm auf den Rücken dreht, der dann unter Schmerzensschreien aufgibt und Reue über sein Verhalten zeigt, komplett unrealistisch.

Die einzige Chance, die eine 50-kg-Frau gegen eine 100-kg-Gegner im Ernstfall hat, ist die, empfindliche Körperstellen anzugreifen.
Dazu zählen:

  • Fingerstich und Schläge zum Hals
  • Fingerstiche in die Augen
  • Handfläche unter das Kinn (Genick)
  • Knie in die Genitalien
  • Tritte zum Knie (für Fortgeschrittene, wegen der Balance auf einem Bein)

Diese Techniken zu üben, bedeutet natürlich eine hohe Verletzungsgefahr, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass speziell Anfänger eine oft sehr schlechte Koordination mitbringen.
Deshalb muss der Ausbilder, Schulleiter, Lehrer oder Meister auch genau wissen, was er tut!
Ein Verzicht auf diese Techniken würde die Selbstverteidigung komplett entschärfen und kommt deshalb nicht in Frage. Wir würden Schwächeren das trügerische Gefühl geben, sich verteidigen zu können, und sie damit schutzlos ihren Gegnern ausliefern.  Im Ernstfall würde dann das bittere Erwachen kommen!

Nun kommt die Methodik des Unterrichtens ins Spiel mit folgenden wichtigen Grundeinstellungen für den Schulleiter:

  • Wie können diese gefährlichen Techniken ohne Verletzungsgefahr geübt werden?
    Durch Schläge gegen Schlagpolster, Handpratzen und Sandsack können die „Waffen geschärft“ werden, ohne den Partner zu verletzen.
    Bei der Übung mit dem Partner kann der Schlag dann sehr leicht und langsam erfolgen und richtet damit keinen Schaden an.
     
  • Schüler müssen mit Bedacht ausgewählt werden:
    Wenn der Schulleiter z.B. schon anfangs im WingTsun-Einführungsgespräch (Erstinfo der EWTO-Schule) das Gefühl hat, jemanden vor sich zu haben, der WT missbräuchlich verwenden möchte, sollte grundsätzlich darauf verzichtet werden, ihn als Schüler aufzunehmen.
     
  • Wenn festgestellt wird, dass der Schüler sich nicht an die Anweisungen des Lehrers  im Training hält und z.B. trotz der Anweisung, eine Technik langsam auszuführen, rücksichtslos schnell angreift – dann muss sich der Lehrer durchsetzen und gegebenenfalls den Schüler, wenn dieser es auf Dauer nicht versteht, aus dem Unterricht nehmen oder ihm keine solchen Techniken mehr zeigen. Das Wohl der Gemeinschaft steht über dem Egotrip eines Einzelnen!
     
  • Aufklärung: Vor dem Üben gefährlicher Techniken sollten die Schüler aufgeklärt werden, was die jeweilige Technik auslöst und welche Schäden beim Gegner entstehen können! Dann übt der Schüler auch verantwortungsbewusster!
     

Von der Selbstverteidigung zur Kampfkunst

Auch wenn der Anfangsschwerpunkt im Unterricht die Selbstverteidigung ist, dürfen wir die anderen Aspekte nicht vergessen.

WingTsun bietet wesentlich mehr Vorteile als die reine Selbstverteidigung und im Laufe der weiteren WingTsun-Ausbildung werden viele weitere Fähigkeiten, wie das taktile Reagieren, der Umgang mit der gegnerischen Kraft, verbesserte Balance und Manipulation der gegnerischen Balance, stärkeres Körperbewusstsein, gesteigerte Achtsamkeit usw. geschult. – Über die weiteren Aspekte und Schwerpunkte des WingTsun lest ihr mehr in den kommenden Editorials hier auf der WingTsunWelt online.

Fotos: aw/EWTO/mg