WingTsun

Achtung – Sifu Kernspecht ist ein Dieb!

Kampfkunstmeister sein – für viele Männer ein Lebenstraum und zugleich ein unerreichbar erscheinendes Ideal. Dieser Bericht soll allen Fleißigen Mut machen, dass dieser Traum tatsächlich erreichbar ist. Aus Traum kann Wirklichkeit werden, sofern man sich ernsthaft bemüht.

WingTsun betreibe ich nun seit ca. 17 Jahren. Begonnen habe ich bei Sifu Heiko Martin, inzwischen selbst 6. Meistergrad WT, und werde seit etwa zehn Jahren weiterbegleitet durch Sifu Hans-Peter Edel, 7. Meistergrad WT.
Neben meiner Ausbildung bei meinen „Hauslehrern“ hatte „ich“ immer wieder das Vergnügen, Sifu Kernspecht zwischendurch auf Lehrgängen und in Kleingruppen live erleben zu dürfen. Ich schreibe das Wort „ich“ in Anführungszeichen, da es nicht immer ich war, der bei unserer Begegnung das Vergnügen hatte, sondern eher nur SiGung selbst.

Sämtliche Techniken, die ich mir mühsam über Jahre hinweg angeeignet hatte, zerstörte SiGung in seinem Unterricht geradezu mit einer Leichtigkeit, dass es frustrierend bis sogar schockierend für mich war. Bei mir blieb nach fast jedem Lehrgang das Gefühl der Leere und das Gefühl des Meiner-Techniken-beraubt-worden-Seins zurück.
Oft versuchte ich, mir dieses Gefühl der Enttäuschung auszureden. Ich suchte Ausreden, warum ich evtl. nur einen falschen Eindruck bekommen hatte oder doch zu unzureichende Techniken hatte, um SiGung abzuwehren oder sinnvoll anzugreifen.

SiGung klaut!
Heute weiß ich jedoch, dass SiGung mich tatsächlich immer wieder meiner Techniken beraubte.
Dies tat er, wie wir heute zunehmend alle wissen, mit gutem Grund und bestem Gewissen. Seit ich WT trainiere, forschte Sifu ständig nach Raffinessen und einem Grundrüstzeug für die WT-ler, anstatt sich in kleinen unwichtigen Details zu verlieren.
Als damaliger Sammler von Techniken war ich davon nur wenig angetan. Heute, als selbst erfahrener Anwender der Prinzipien, bin ich geradezu begeistert, welche Erfahrungswerte Sifu herausgefunden hat und an uns eins zu eins weitergibt.
Seit der Einführung seines „neuen“ Konzepts vor ein paar Jahren bin ich bereits Feuer und Flamme. Schon damals durfte ich erkennen, dass die Aussage vieler WT-Lehrer, dass man die Kraft des Gegners borgen solle, nicht einer angewandten Realität entsprach. Und so hatte ich selbst immer einen berechtigten Zweifel an der Umsetzbarkeit der WT-Prinzipien und vor allem der Kraftsätze.

Und dann kam Livorno
SiGung lud mich dieses Jahr ein, nach Livorno zu kommen, um dort intensiv mit mir zu arbeiten und mir den letzten Schliff für meinen Meistergrad zu geben.
Das erste Training mit SiGung fand entspannt auf seiner Veranda statt. Das Einzige, was verspannte, war eher mein Körper, als SiGungs blitzschnelle Angriffe auf diesen einschlugen. Diese Gefühlspaarung von Schmerz und Faszination haute mich gleich doppelt um. Grundsätzlich bin ich weder Freund von Schmerzen, noch von Lehrern, die ihre Schüler prügeln. Dieses Mal gab es eine Ausnahme, über die ich gerne berichten möchte. SiGung war in seinem Bestreben, mich „weich“ zu klopfen unermüdlich. Mit einem großmeisterlichen Geschick verstand er es derart, seine Treffer so dosieren, dass sie lehrreiche Wirkung erzielten, jedoch keinen bleibenden Schaden anrichteten. Meine Brust war nach dem Training rot und die folgenden Tage blau und schmerzend. Die erste Nacht wusste ich nicht, wie ich mich schlafen legen sollte… Das war jedoch nichts im Vergleich zu dem genialen Turbo-Lerneffekt, den ich dadurch erleben durfte. Schon nach einer Stunde Unterricht begann mein Körper, sich anders zu bewegen. Geradezu schlangenartig in Wellen modifizierte er die von Sifu einschlagenden Angriffe, so dass die Kraft nur noch mit einem gefühlten Zehntel einschlug. Zugegebenermaßen zu Beginn hatte ich SiGungs „durchschlagende“ Unterrichtsmethode unterschätzt. Ich begann den Unterricht mit dem Gefühl: „Das musst du halt als angehender Meister durchhalten!“ Einmal begonnen, wollte ich gar nicht mehr aufhören zu trainieren, berauscht von dem neuen "Un"bewusstsein, welches SiGung bei mir einpflanzte.
Es sind nun mehrere Wochen vergangen seit meiner Prüfung in Livorno und ich bin immer noch begeistert und bemerke die zunehmende Veränderung in meinem (Un)bewusstsein. Meine Schüler bemerken ebenso die Veränderung an mir und sind motiviert, weiter gemeinsam mit mir mittels des neuen Konzeptes zu wachsen.
Dafür nochmals vielen Dank für die fürsorgliche Betreuung von Sifu Kernspecht. Solche Erfahrungen sind einmalige Erlebnisse, die sich nur selten wiederholen. Ich kann es ausdrücklich empfehlen, SiGung in Livorno zu besuchen und nebenbei den Zauber der mediterranen Auslandsatmosphäre zu erleben.

Text: Constantin Mock, 5. Meistergrad WT
Fotos: