Editorial

Der „wiedergefundene“ Pfeil oder wie der Glaube Berge versetzen kann

In meiner Jugend zwischen dem 8. und 13. Lebensjahr war ich jeden Tag auf dem Lande und betrieb neben dem Bäumeerklettern, Ringen und dem asiatischen Kampfsport Beilwerfen und Bogenschießen, ohne dass es mir jemals jemand gezeigt hätte.

Ich besaß nur  e i n e n Pfeil, mit dem ich stundenlang auf den Feldern auf Ziele schoss. Ich hatte mich zu einem ziemlich guten und instinktiven Schützen entwickelt, wie mir später ein echter Weltmeister aus dem Ostblock bestätigte, der in einem Kieler Sportgeschäft einen Workshop durchführte. Ich bildete mir ein, den Pfeil mit meinem Willen ins Schwarze zu schicken, und war mir sicher, ihn bis zuletzt kontrollieren und dirigieren zu können. Dennoch schoss ich manchmal vorbei, das heißt, ich verfehlte mein Ziel. Damit tat ich das, was in der Bibel als „sündigen“ (= das Ziel verfehlen) bezeichnet wird. Verfehlte ich, dann konnte ich – mit Konfuzius gesprochen – niemand anders als mir selbst die Schuld daran geben und lernte schon früh, Verantwortung zu übernehmen für meine „Verfehlung“.
Die Konsequenz meines „Fehlers“ war, dass ich ins „Sportgeschäft Lüneburg“ (heute befindet sich dort ein excellentes Restaurant) in Kiel, in der Dänischen Straße fahren musste, um einen neuen Pfeil zu kaufen, der mein mageres Schülerbudget so schmerzhaft belastete, dass ich es mir nicht leisten konnte. Verfehlte ich die Scheibe oder wurde der Pfeil abgelenkt, dann war sein Weg hinterher kaum noch rekonstruierbar, der Pfeil schoss durch das Getreide und bohrte sich oft tief und flach in den Grassoden, wodurch er unsichtbar und praktisch unauffindbar wurde. Am Anfang suchte ich noch stundenlang nach dem Pfeil, was aussichtslos war. Dann erinnerte ich mich wohl an meine Kindergebete und betete, dass mich Gott zu dem Pfeil führen möge. Ich schloss meine Augen und ging voller Vertrauen und Dankbarkeit auf eine nahezu x-beliebige Stelle in grober Schussrichtung zu und hielt nach kurzer Zeit wunderbarerweise den Pfeil in meiner Hand.
Ich weiß nicht, wie oft ich in all den Jahren pro Tag diese Beschwörung oder dieses Gebet anwendete, um den Pfeil – den einzigen, den ich besaß – zu finden, Insgesamt muss ich es in all den Jahren einige hundert Mal – und immer erfolgreich – durchgezogen haben.
Manchmal klappte es nicht auf Anhieb, dann führte ich das auf schlechte Konzentration zurück, aber nicht einmal war ich auch nur im geringsten in Zweifel, dass es mir wieder gelingen würde, so groß war mein Glaube. Bezeichnend ist auch, dass ich niemand davon erzählte, auch meinem Vater nicht.
Hinterher ist mir klar, weshalb nicht: Ich hielt es für nichts Besonderes oder Außergewöhnliches, für nichts, was erzählenswert gewesen wäre. Tatsächlich wurde mir erst viele Jahre später, als ich auf der Suche nach dem Wunderbaren war,  klar, was ich als naives Landkind gekonnt hatte und nun wiedererlangen wollte.
Als ich später meinem Freund, Prof. Tepperwein, davon erzählte, weil ich ihm erklären wollte, dass ich früher die Gabe des (Wieder-)Findens von Gegenständen und Personen entwickelt hatte, schüttelte dieser sanft und nachsichtig lächelnd den Kopf: „Nein, das war kein Finden!“
Erst war ich ent-täuscht, aber als er es mir erklärte, begriff ich, dass dieser erfahrene Lebenslehrer meine Leistung keinesfalls geschmälert hatte: Ich hatte den Pfeil nicht „gefunden“, ich hatte „verursacht“, dass er jetzt dort lag. Ich hatte ihn dort hinbestellt, indem ich mir sicher war, dass er schon dort lag, dass es nichts Besonderes und kein unbilliges Verlangen war und ich mich schon dafür bedankt hatte, bevor ich dort hingegangen war. Nachdem ich – ohne es zu wissen – alles richtig gemacht hatte, konnte mir das Leben meine richtig abgesandte Bestellung nicht verweigern.
Warum ich das schreibe? Um zu zeigen, welche Macht unsere Gedanken haben können, wenn wir an unsere Fähigkeiten glauben.