WingTsun

Der WT-Vorwärtsschritt im ersten Schülergradprogramm

Boris Methner gibt einige Tipps für Anfänger zum Üben des WT-Vorwärtsschrittes.

„Der Vorwärtsschritt gehört zu den elementarsten Bewegungen im WingTsun; eine theoretisch gesehen einfache Bewegung, die in Verbindung mit dem Fauststoß als Universallösung gegen Angriffe dient." (GM Kernspecht: „Vom Zweikampf“)

Ich möchte im Folgenden nicht auf die gesundheitlichen oder die anatomischen Aspekte eingehen. Es geht hier um die Beleuchtung des Vorwärtsschrittes im ersten Schülerprogramm und wie er Anfängern näher gebracht werden kann, damit sie ihn mit ihren Möglichkeiten nutzen können.
Ich gehe vom Vorwärtsschritt aus der Vorkampfstellung – in diesem Falle beispielhaft rechtes Bein vorn – aus. Der Schüler soll anhand des Schrittes das Prinzip der Vorwärtsverteidigung lernen („ist der Weg frei, gehe nach vorne“). Der Vorwärtsschritt wird in der Hauptsache im ersten Schülergrad im Lat-Sao-Programm unterrichtet. Das Wissen über das erste Schülergrad-Programm setze ich hierbei voraus.
Bei dem Vorwärtsschritt ist es wichtig, sich nicht von vornherein auf ein lokales Ziel festzulegen. Es geht um ein flexibles Nach-Vorne-Schreiten. Der Geist soll in diesem Falle nicht auf einen Punkt fixiert – sondern flexibel sein. In unserem All-
tag sind jedoch derartige Festlegungen üblich. Es ist gang und gäbe, sich auf ein Ziel zu fixieren und mögliche Veränderungen nicht wahrzunehmen. Beim Vorwärtsschritt kann es ebenso zu einer plötzlich veränderten Position des Angreifers kommen. In diesem Falle erfordert es ein hohes Maß an (geistiger) Flexibilität, sich den veränderten Bedingungen anzupassen. Nach vorne gehen kann weiterhin auch heißen, sich einer Opferrolle zu entledigen. Sich einer Auseinandersetzung zu „stellen“ bedeutet, Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen und u.U. Verantwortung zu übernehmen. Wer in Bewegung bleibt, lebt länger. Das Starre geht unter. Das entspricht Lehrsätzen des Lato-Tse aus dem Tao Te King.
Der Vorwärtsschritt gilt in Kombination mit den Armen im WT als Universallösung. Der WT-Lernende befindet sich in der neutralen Distanz (d.h. wo er selbst durch Maximalreichweite z.B. durch einen horizontalen Kick mit eingedrehter Hüfte des Gegners nicht ereicht werden kann. Sobald der Gegner in die kritische Distanz (Erreichbarkeit des Gegners in maximaler Reichweite) kommt, bewegt sich der WT-Lernende aus der Vorkampfstellung mit Armen und Beinen keilförmig in das Zentrum des Gegners. Er kann ihn dadurch aus den Gleichgewicht bringen, ohne selbst getroffen zu werden.
Der WT-Kämpfer steht in der Vorkampfstellung. Das bedeutet, auf dem hinteren Fuß ruht das Körpergewicht. Das vordere Bein ist unbelastet und parallell zum hinteren Bein. Beide Füße sind in 45 °-Stellung leicht eingedreht, so dass u.a. das vordere Knie nach innen geneigt ist, um den Genitalbereich vor einen möglichen Tritt zu schützen. Die Hüfte ist nach vorne gekippt, so dass die Wirbelsäule gerade ist.
In den Beinen ist durch die Adduktoren eine nach innen und leicht vorwärts gerichtete Spannung aufgebaut. Man kann mit dem (in unserem Falle) rechten Bein nach vorne gehen, indem das Gewicht auf dem hinteren Bein bleibt, während das vordere Bein im Vorwärtsschritt durch die Adduktorenspannung den Körper „hinterher zieht“. Der Oberkörper soll während des Schrittes möglichst gerade bleiben. Wenn man sich einen Kreis vorstellt, steht die Körpermasse des WT-Lernenden auf dem hinteren Bein im Zentrum eines Kreises. Ähnlich der Bewegung eines Schul-Zirkels ist es somit möglich, sich nach allen Richtungen zum Angriff hin aus der o.g. Vorkampfstellung heraus auszurichten, bevor eine Vorwärtsbewegung ausgeführt wird.
Der WT-Kämpfer hat mit dem Gesamtkörper, insbesondere dem vorderen Bein einen leichten Vorwärtsdruck, sobald er das gegnerische Bein erreicht. Er spürt dadurch, ob der Gegner sein Bein zurückzieht. Wenn das der Fall ist, folgt er ihm, indem das vordere Bein „kleben“ bleibt. Der vordere Fuß wird abgesetzt, ohne dass Gewicht darauf verlagert wird. Die Hüfte kommt dabei rechts leicht nach vorne. Das hintere Bein wird passiv nachgezogen, bis sich die Hüfte wieder parallel „verriegelt“.

Mögliche Fehler

In dem Werk "WingTsun Kuen" wird auf folgende mögliche Fehler verwiesen.

- Gewicht auf dem vorderen Bein während des Schrittes oder hinterher
- Antrieb durch das hintere Bein, indem man sich etwa von diesem abstößt
(Gleichgewichtsprobleme)
- Bewegung mit dem vorderen Bein, wenn das zweite folgt (Balance)
- fehlende Kniespannung (Deckung)
- beide Füße nicht in einer Linie (wir gehen einspurig, nicht zweispurig vor)
- vorderer Fuß ist nicht eingestellt
- vorderes Knie zu stark gebeugt
- vorderes Bein zu sehr gestreckt
- Stand zu tief
- Stand zu hoch
- Stand ist zu lang
- Oberkörper ist nicht lotrecht zur Hacke

Im Prinzip werden diese möglichen Fehler auch in GM Kernspechts Buch „Vom Zweikampf' aufgezählt.
Ergänzend dazu will ich einige didaktische Schwierigkeiten anmerken, die WT-Lernende bei dem Vorwärtsschritt haben (in beliebiger Reihenfolge):

- Gewicht auf beiden Beinen, bevor der Schritt ausgeführt wird
- Angesichts des Lerninhaltes zum l. Schülergrad können die Ansprüche nicht zu hoch angesetzt werden, so dass der Lernende zwar über die
Schrittbewegungen weiß, jedoch dieses Wissen noch nicht ausreichend in die Praxis umsetzen kann
- Der Spaß am wiederholten Üben des Vorwärtsschrittes darf nicht auf Kosten der angestrebten Perfektion des Lehrers leiden
- Das Zusammenwirken von Schrittarbeit und Oberkörper-Ausrichtung zum Übungspartner ist meist mangelhaft. Der Schritt wird oft an ihm vorbei ausgeführt
- Mangelndes Distanzgefühl
- Der Gegner darf nicht im Vorfeld meine Bereitschaft zum Vorwärtsschritt erkennen
- Falscher Zeitpunkt, wann die kritische Distanz (s.o.) zum Trainingspartner erreicht ist
- Hüpfendes bzw. springendes Nach-vorne-Bewegen (trifft oft bei Schülern zu, die aus anderen Kampfstilen kommen)

Da ich als Lehrer ein Interesse daran besitze, dass der Lernende sein WT-Studium weiterhin fortsetzt, kann ich ihn nur bedingt auf diese Vielzahl möglicher Fehler verweisen. Die Anforderungen für den Vorwärtsschritt für den ersten Schülergrad relativieren sich hinsichtlich des real möglichen Lernpensums.
Anfangs ist es vorallem wichtig, dass der Schüler die Distanz zum Übungspartner einschätzen lernt und schnellstmöglich nach vorne kommt, um sich zu verteidigen. Dabei geht es u.a. um das Wissen um Flexibilität und Vorwärtsdruck.

Nicht jeder Angreifer muss zwangsläufig ein Experte im Fußfegen sein bzw. die Lücken der Gewichtsverlagerung ausnützen können. Damit will ich nicht die Wichtigkeit des korrekten WT-Vorgehens in Frage stellen.
Mir ist im Unterrichten und bei Auseinandersetzungen auf der Straße aufgefallen, dass schon ein direktes Nach-vorne-gehen eine gute Voraussetzung für eine sichere Selbstverteidigung ist.
Die meisten Neuanfänger wollen sich meiner Erfahrung nach mit den erlernten Bewegungen möglichst schnell „sicher“ fühlen. Für mich gehört dazu eben auch die o.g. mentale Ebene, sich dem Konflikt „zu stellen“, d.h. ihm entgegen zu gehen.
Für viele Menschen, die mit WingTsun anfangen stellt das schon eine große Überwindung dar, weil die meisten Leute es nicht gewohnt sind, in einer Auseinandersetzung nach vorne zu gehen. Gerade Frauen haben es oft nicht gelernt, die körperliche Nähe zum Gegner zu suchen.
Die meisten Anfänger sind sich sicher, wenn sie eine möglichst große Distanz zum Gegner haben. Das trifft auch für Vertreter anderer Kampfstile (z.B. Karate, Shaölin-Kung Fu, Tae kwon do, etc.) zu. Auch sie müssen hier umlernen. Die Fehlerquellen für WT-Lernende sind deshalb bezüglich des ungewohnten Nach-Vorne Gehens vielfältig. Meist überschätzen sie die Distanz zum Gegner, sind zu ungeduldig, laufen in seinen Angriff hinein. Wenn die Distanz zum Gegner zu groß ist, versuchen Neuanfänger (aber auch Fortgeschrittene), sie mit einem zu großen, ausschweifenden Schritt zu überbrücken, bei dem sie zwangsläufig eine Gewichtsverlagerung vom hinteren auf den vorderen Fuß vollziehen müssen. Meist endet ihr Vorwärtsschritt vor dem Gegner anstatt (mindestens) in der Position zwischen seinen Beinen. Genau das lädt zum Fußfeger sowie zu Kniestößen förmlich ein. Das stockende Vorwärtsgehen ist ebenso gefährlich, wie das Stehenbleiben. Wichtig ist die fließende Bewegung beim Vorwärtsschritt. Ebenso wichtig ist das korrekte Timing, in welchem Moment ich nach vorne gehe. In keinem Fall darf ich dem Gegner Zeit lassen, mich mit seinem Angriff zu treffen. Selbst bei Finten, die aus einer „kritischen Distanz“ heraus gemacht werden, muss ich mich zu ihm hinbewegen, da es optisch kaum möglich ist, in einer solchen Distanz zwischen einem „richtigen“ und einem angetäuschten Angriff zu unterscheiden. Wenn der WT-Lernende nun in der richtigen Distanz nach vorne gegangen ist, sollte er den (körperlichen) Kontakt zum Gegner aufgenommen haben. Dabei kann es auch darauf hinauslaufen, dass der Gegner durch das Verriegeln der Hüfte einen Hüftstoß versetzt bekommt, der ihn aus dem Gleichgewicht bringt.
Weiterhin sollte der Vorwärtsschritt auf dem kürzesten Weg ausgeführt werden. D.h. er sollte linear, parallel zum Boden, ohne Auf- und Abwippen des Gesamtkörpers in möglichst einer Bewegung vollzogen werden. Das setzt einen entspannten Zustand voraus, den Anfänger meist noch nicht besitzen. Mit der Zeit, wenn sich der Körper durch den regelmäßigen WT-Unterricht mehr und mehr entspannt, funktioniert die Schrittarbeit automatisch besser. Wer entspannt ist, ist besser verteidigungsfähig und kann gelassener auf Angriffe reagieren.

Übungsmöglichkeiten

Es gibt sicherlich eine Vielzahl von möglichen Übungen für den WT-Vorwärtsschritt. Jeder Lehrer hat seine eigenen Erfahrungen damit gemacht. Ich will an dieser Stelle vier von denjenigen ausführen, mit denen ich gute Ergebnisse bei meinen Schülern erzielen konnte.

Klassische Bein-Zieh-Übung
aus dem WingTsun Kuen von Großmeister Leung Ting:
Es handelt sich um eine Übung, die sich meiner Erfahrung nach gut auf das Gleichgewichtsgefühl auswirkt und gleichzeitig die Adduktoren trainiert. Ferner vermittelt sie dem WT-Lernenden das Gefühl, dabei den Oberkörper entspannt zu halten.
Während der Lernende auf dem hinteren Bein steht, zieht der Übungspartner sein vorderes Bein an sich heran. Der Übende versucht durch die Adduktorenspannung das hintere (belastete) Bein heranzuziehen zu lassen. Dabei ruht der Oberkörper in gerader Position.

Klebenbleiben am Bein des Gegners
Beide Partner stehen sich wie im Lat-Sao gegenüber. Die Arme sind dabei außer acht zu lassen. Einer von beiden (Person a) spielt den „Dummy-Part“ und zieht sein Bein zurück. Der andere (Person b) muss in seinem vorderen Bein Vorwärtsdruck aufbauen und kann dadurch Person a folgen. Diese Übung sollte mit geschlossenen Augen geübt werden. Dadurch ist es möglich, ein Gefühl für die Vorwärts-Bewegung der WT-Schrittarbeit zu bekommen.

Bein-Pump-Übung
Beide Partner stehen sich in o.g. Vorkampfstellung gegenüber. Die Distanz zwischen ihnen muss wie in der ersten Kampfdistanz sein: nur die vorderen Beine können sich treffen. Sie haben mit den Füßen Kontakt. Während beide die Pak-Sao-Fauststoß-Übung aus dem ersten Schülergrad-Programm trainieren, heben sie das jeweils vordere Bein schnell hoch und herunter. Somit üben sie, den Oberkörper ruhig zu halten, ohne das Gewicht auf das vordere Bein zu verlagern, während sie die o.g. Fauststoßübung ausführen. Diese Übung ist gut für das Gleichgewicht und die Koordination zwischen Oberkörper, Fauststoß und der Beweglichkeit des vorderen Beines. Der Oberkörper wird gezwungen, halbwegs entspannt zu sein, wenn die Übung erfolgreich sein soll. Das ist wichtig für den WT-Vorwärtsschritt, da ein verkrampfter Oberkörper, der sich den Beinbewegungen anpasst, dem Gegner unnötige Signale der Absichten gibt und durch die Verspanntheit unflexibel in der Vorwärtsbewegung ist.

Zentrums-Dreh-Übung
Auch diese Übung wird mit den Armen ausgeführt, die einen „Keil“ vor der Körpermitte zum Gegner hin ausrichten. Der Übungspartner versucht den Lernenden seitlich – wahlweise von der linken oder der rechten Seite her – “anzugreifen“. Der Lernende versucht dabei, sich mit dem Übungspartner mitzudrehen; d.h. den Keil auf die vertikale Zentralachse des Gegenüber auszurichten. Ziel der Übung ist es zu lernen, das Gewicht auf dem hinteren Bein zu lassen und sich auf den Gegner so auszurichten, dass er mit beiden Armen attackiert werden kann. Auch das ist bei dem WT-Vorwärtsschritt wichtig, der im ersten Schülergrad-Programm zu lernen ist.

Es ist für den Trainingserfolg von zentraler Bedeutung, den WT-Vorwärtsschritt nicht nur im ersten Schülergradprogramm zu üben. Von Programm zu Programm wird der Schritt schon alleine durch das bessere Körpergefühl exakter, weil WT-Lernende im regelmäßigen Unterricht langfristig fähig werden, sich ökonomischer zu bewegen. Man sollte sich nicht zu sehr in Details verlieren. Oftmals ist es für Anfänger einfacher, lediglich einen Aspekt zu lernen und zu verstehen, als den Vorwärtsschritt in seiner ganzen Komplexität vermittelt zu bekommen.