WingTsun

Mache dich frei von der eigenen Kraft

Welcher ordentliche WingTsun-ler kennt nicht diesen ersten Kraftsatz? Jeder hat ihn im Kopf, viele argumentieren damit. Doch wird er wirklich immer richtig verstanden?

Wenn man dieses erste Gesetz der Kraft zu wörtlich nimmt, kommen eigenartige muskuläre Verhaltensweisen heraus. Völlig frei von eigener Kraft zu sein, würde bedeuten, dass man wie eine Qualle am Boden liegt und sich nicht mehr rühren kann. Denn jeder Einsatz der eigenen Kraft ist ja untersagt. Wie soll ich also stehen, geschweige denn, mich bewegen. Auch wenn man kräftigen Schülern sagt, sie sollen ihre Kraft bitte mit den Straßenkleidern in der Umkleidekabine lassen, kann da irgend etwas nicht richtig sein. Denn jeder weiß, dass der Gegner von einem durch kräftige Muskeln hervorgebrachten Fauststoß eher umfällt, als von einem, der durch minder große Muskelkraft angetrieben wurde. Es kann also offensichtlich nicht darum gehen, auf Kraft zu verzichten. Was bedeutet also das erste und damit wichtigste Gesetz der Kraft?
Um das zu klären, macht man sich am besten bewusst, dass es sich um ein WingTsun-Gesetz handelt. Also muss es mit WingTsun-Bewegungen zu tun haben. Dass es nicht bedeuten kann, diese Bewegungen kraftlos auszuführen, haben wir schon hergeleitet. Welche Kräfte spielen also bei WingTsun-Bewegungen eine Rolle? Um hier weiter zu kommen, sollte man zunächst überlegen, welche WingTsun-Bewegungen sich anbieten, um unsere Frage zu beantworten. Am besten zieht man hierzu die Grundlage des WingTsun, die Siu-Nim-Tao, die erste und damit wichtigste Form des Systems, heran.

Was fällt auf, wenn wir die Form machen, welche Schwierigkeiten haben viele in den Anfängen ihres Trainings? Vermutlich ist das beste Beispiel der Fook-Sao im dritten Satz, bei dem der Ellbogen soweit vor den Körper genommen werden sollte, dass der Unterarm einen Winkel nach außen einnimmt. Diese Position hat schon viele Anfänger gequält und wird es auch weiterhin tun. Warum fällt es vielen WingTsun-lern, gerade kräftigen Leuten so schwer, diese Position korrekt einzunehmen?

Der Grund dafür liegt meist im aufgeblähten großen Brustmuskel. Will der Anfänger den Ellbogen vor den Körper ziehen, so schwillt er an und verhindert so die korrekte Position. Der übende Schüler bemüht sich verzweifelt, gegen die Kraft des störenden Muskels seinen Ellbogen richtig vor den Körper zu plazieren.
Oder die Wu-Sao: Bei verkürzten Handgelenk- und Fingerbeugern kann sie nicht so gerade wie nötig aufgestellt werden. Die Strecker müssen gegen den Zug der Beuger die Hand mühevoll aufstellen. Genau hier liegt die Antwort unserer Frage nach der Bedeutung des ersten Kraftsatzes.

Er ist speziell auf die in der Form definierten Positionen ausgerichtet. Er beschreibt, dass der WingTsun-Praktizierende zunächst seinen Körper so schulen muss, dass er die in der Form vorkommenden Positionen einnehmen kann, ohne dass muskuläre Gegenspieler nennenswerten Widerstand bieten. Wenn der WingTsun-Schüler die Positionen leicht einnehmen kann, dann hat er sich von der eigenen Kraft befreit. Erst dann hat er die Voraussetzung, den zweiten Kraftsatz zu erfüllen, sich von der Kraft des Gegners zu befreien. Solange er gegen die Kraft der eigenen Gegenspieler arbeiten muss, kann er sich nicht von der Kraft des anderen befreien, da er viel zu verspannt ist, um die notwendigen Positionen einzunehmen.

Im WingTsun-ChiKung befreien wir uns auch von der eigenen Kraft. Dort ist die Festlegung der Grenzen aber nicht die Siu-Nim-Tao, sondern die von der Evolution durch den Bau der Knochen und Gelenke festgelegten Winkel. Dadurch erarbeiten WingTsun-ChiKung-ler eine noch ausführlichere freie Beweglichkeit, die wiederum hilft, die im WingTsun notwendigen Positionen leichter zu erreichen, also sich von der eigenen Kraft, wie in der Siu-Nim-Tau definiert, zu befreien.