BlitzDefence

Selbstverteidigung aus Sicht der Kommunikationswissenschaften – Teil 6

Distanzen spielen gerade in Extremsituationen wie einer Selbstverteidigungssituation eine große Rolle. Lesen Sie, wie Sie die Psychologie der Distanzen zur Selbstverteidigung nutzen können...

Tabellarische Gegenüberstellung der Distanzen

Die nachfolgende Tabelle stellt die psychologischen Zonen den körperlichen Zonen gegenüber. Es wird auf den ersten Blick deutlich, wo diese Distanzen ihren Ursprung haben.

Bei den Distanzen in den Blitzdefence Programmen wird im Bereich der Selbstverteidigung ausschließlich auf die reine Distanz im Nahbereich abgestellt. Diese münden dann in die Techniken, die je nach Distanz möglich sind. Die BlitzDefence Haltung soll vor dem Überschreiten von der gesellschaftlichen zur persönlichen Distanz Schutz bieten. In dieser Distanz wird z.B. Tritten durch „Vorgehen" begegnet.

Kampf-Distanzen
Psychologische Distanzen
Kopfnuss- u. Wurfdistanz Direkte Intime Distanz
Handdistanz 15 bis 70cm Intime Distanz 15 bis 45 cm
Ellenbogen 15 bis 30cm Persönliche Distanz 45 bis 120 cm
Kniedistanz 0 bis 45 cm Gesellschaftliche Distanz 1,20 bis 3,60 cm
Trittdistanz 45 bis 120 cm Öffentliche Distanz über ca. 3,60 m
Kurzwaffen Schwerter etc. 1,20 bis 3,6 m
Langwaffen: Langstock/Speer über ca. 3,6 m

Die Überbrückung von Distanzen

Wie ich im letzten Monat beschrieben habe, bietet jede Distanzzone ihre Vorteile. Jedoch dürfen wir auch die Nachteile dabei nicht außer Acht lassen. Wenn wir die Überbrückung der Distanz in der Selbstverteidigung betrachten, müssen wir grundsätzlich zwischen zwei Möglichkeiten einer Auseinandersetzung unterscheiden:

1.) Ich weiß, ich muss kämpfen und es lässt sich nicht mehr verhindern bzw. vermeiden. Diese Situation gibt es sowohl im Wettkampf, wie auch im Duellkampf, nur die Preise für den Sieger oder den Verlierer unterscheiden sich. Erkenne ich den Angriff rechtzeitig, so habe ich ausreichend Zeit, mich auf einen Angriff vorzubereiten und einzustellen.
2.) Ich werde von einer Situation überrascht, die mich plötzlich in einen Zwiespalt zwischen Flucht und Angriff bringt. Oftmals ist es die Situation noch nicht einmal wert, sich mit ihr intensiver zu beschäftigen. Aber sie ist da und es ist erforderlich zu handeln. Ich spreche hier von der Ritualkampfsituation. Mein Si-Gung, GM Keith R. Kernspecht, hat diese in seinen Büchern über Ritualkampf, BlitzDefence und Reaktionszeiten sehr ausführlich beschrieben. Das Wichtigste für die Distanzen ist jedoch, dass diese Ritualkampfsituationen erst in der Nahdistanz beginnen ernsthaft zu werden. Das verbale Vorspiel wird oftmals nicht rechtzeitig als Angriff wahrgenommen. Für diese Art der Distanzunterschreitung ist das BlitzDefence-Programm entwickelt worden.
Wenn wir von der Überbrückung der Distanzen sprechen, so bedeutet das, dass wir grundsätzlich von einer Situation ausgehen müssen, die sich im Bereich des Duellkampfes abspielt. In der Ritualkampfsituation hat in den allermeisten Fällen der Angreifer bereits die Distanz überbrückt. Dann ist nur noch Schadensbegrenzung möglich.

Grundsätzlich gilt:
Eine Überbrückung von Distanzen ist im waffenlosen Kampf ohne eine Annäherung nicht möglich. Eine Annäherung ist wiederum ohne Schritte nicht möglich. Das bedeutet für unsere Wahrnehmungsschulung, dass wir nicht so sehr auf die Positionierung des Oberkörpers achten dürfen, sondern auf die Position der Füße achten müssen. Kann mich der Angreifer auch durch die Verlagerung seines Schwerpunktes auf sein vorderes Bein nicht erreichen, so muss er unweigerlich einen Schritt auf mich zu machen. Hat er aber bereits sein Gewicht auf das vordere Bein verlagert, fällt es ihm umso schwerer einen Schritt zu machen. Außerdem wird der Angreifer unmöglich gleichzeitig einen schweren Angriff mit einem Arm und einem Bein machen können. Er wird eine von beiden Bewegungen bevorzugen müssen, um sich dynamisch bewegen zu können. Diagonal mit dem rechten Arm und dem linken Bein wird es kaum möglich sein, dann auch noch an Distanz zu gewinnen.

Hier ein paar praktische Übungsbeispiele:
Übung 1

Wenn ich nicht nur die Arme des Gegners schubsen möchte, sondern den Körper, muss ich meine Kraftlinie so ausrichten, dass ich Kraft übertragen kann, ohne meinen Schwerpunkt auf das vordere Bein zu verlagern. Das bedeutet, dass meine Kraftlinie endet, wo sich beim Verfolgungsschritt meine Fußspitzen befinden. Das heißt, um Energie übertragen zu können, muss sich der Punkt, den ich schubsen möchte, oberhalb meines vorderen Knies befinden. Hier der Selbstversuch: Stellt Euch im gewendeten Stand z. B. BlitzDefence-Position frontal vor einer Wand auf. Dabei soll die Fußspitze die Wand berühren. Euer Schwerpunkt ruht natürlich zu 100% auf Eurem hinteren Bein. Ihr steht richtig, wenn Ihr die Wand mit den Handflächen bei gestreckten Armen berührt. Jetzt versucht bitte, die Wand zu schubsen. Achtet bitte darauf, kein Gewicht auf das vordere Bein zu verlagern, denn das soll ja hinter Euren Angriff. Ihr werdet jetzt recht schnell merken, dass Ihr Euren Schwerpunkt verlagert, um Energie gegen die Wand aufzubringen, oder aber Ihr berührt zwar die Wand, könnt aber keine Energie übertragen. Wenn Ihr aus der Position heraus auch noch versucht, die Wand mit dem Ellenbogen zu treffen, werdet Ihr feststellen, dass es nicht möglich ist, die Distanz zur Wand mit ausreichender Energie zu überbrücken, ohne den Schwerpunkt nach vorne zu verlagern.

Übung 2
Ihr versucht aus der gleichen Ausgangsposition wie unter 1.) mit dem Knie kräftig gegen die Wand zu Stoßen, bitte vorsichtig damit Ihr Euch nicht verletzt. Ihr werdet es vermutlich gerade schaffen, mit ein bisschen Energie die Wand zu erreichen bzw. zu berühren. Sowie Ihr aber Euen vorderen Fuß nur ca. 10cm von Wand entfernt abstellt, werdet Ihr in den meisten Fällen Euer Gleichwicht nach vorne oder nach Hinten verlieren. Natürlich gibt es anatomische Besonderheiten, wie extrem lange Arme oder Beine, aber auch dort ist die Grenze die Länge der Oberschenkel. Im Kampf werdet Ihr an der Stelle versuchen, Euch an den Gegner heranzuziehen, oder auch diesen herunter zu ziehen, um dieses Distanzproblem auszugleichen. Natürlich darf man auch nicht ausholen.

Die Lösung dieses Problems:
Heute nennt sich das Motto dafür „Hau Fat Sin Dji“ oder auf Deutsch „Beweg dich später, aber komme als erster an“ oder „Der Letzte wird der Erste sein“. Früher nannte sich das „Reaktion auf Distanzunterschreitung“ oder „Prinzip des Magnetismus“. Gemeint ist damit in allen drei Fällen, dass auf die Unterschreitung der Distanz mit einer weiteren Veränderung der Distanz geantwortet wird. Wie zwei Magnete, die sich bei Unterschreiten der Distanz plötzlich anziehen. Doch Vorsicht bei der Interpretation, es handelt sich nur augenscheinlich um drei gleiche Dinge. Das Buch „Der Letzte wird der Erste sein“von GM Kernspecht macht deutlich, dass nicht erst auf die Unterschreitung der Distanz reagiert wird, sondern bereits auf den Entscheidungsprozess des Angreifers. Der Begriff „Reaktion auf Distanzunterschreitung“ stellt dann die nächste Zeitschiene dar. Habe ich die erste Möglichkeit verpass,t muss ich nun auf die tatsächliche Unterschreitung der Distanz reagieren. Ob ich dabei mit Vergrößerung bzw. Beibehaltung der optimalen Distanz reagiere, ist dabei erst mal unerheblich. Stichwort ist hier Distanzvergrößerung als defensiv-taktische Handlungsalternative.
Das Prinzip des Magnetismus schreibt uns an dieser Stelle jedoch eine Handlungsalternative vor, nämlich das „Aggressive“ Vorgehen“. Es wird uns aus Gründen der Reaktionszeit die Entscheidung zwischen Angriff oder Flucht abgenommen. Früher war das die „Universallösung“ Vorgehen mit Vorwärtstritt und Kettenfauststößen. Doch diese Reaktion könnte später in einer Gerichtsverhandlung zu rechtlichen Problemen führen.
Zum Vertiefen des Themas empfehle ich das „Buch vom Zweikampf“.
Habe ich auch die Möglichkeit zum Vorgehen verpasst, macht es keinen Sinn mehr, mit Gewalt nach vorne gehen zu wollen. Stattdessen schieben wir, soweit noch möglich, die Arme vor, um Kontakt zu dem gegnerischen Angriff zu bekommen. Wie ich dann weiter auf den Angriff reagiere, ist abhängig von der Position des Angreifers. Bewegt sich der Gegner auf mich zu und hat dabei die richtige Distanz, muss ich dort bereits weg sein, wo er seinen Angriffszielpunkt erreichen wird. Dies erreiche ich durch Aufnahme der Angriffsenergie, deren Umwandlung in eigene Bewegung, um mich dadurch vom Gegner in Sicherheit bringen zu lassen.
Diese Fähigkeit nennt sich Chi-Sao. Sie wird durch das Einpflanzen von Reflexen durch den eigenen Si-Fu erworben und dann in den Chi-Sao-Sektionen geübt.
Jetzt wird deutlich, dass drei augenscheinlich unterschiedliche Mottos wie Zahnräder ineinander greifen und sich eigentlich nur für Bruchteile von Sekunden voneinander unterscheiden und trotzdem dem Prinzip der Gleichzeitigkeit folgen.
Wenn der Angreifer nun noch weiter nach vorne drängt, wird er unweigerlich auch die Distanz bis in die Ellenbogendistanz überschreiten. Es muss jedem deutlich sein, dass hier auch die Zentrallinie eine entscheidende Rolle spielt, denn die Reichweite einer Technik ist auch abhängig vom eigentlichen Zielpunkt. Verlasse ich die Zentrallinie, um den Gegner mit dem Ellenbogen außerhalb der Zentrallinie z.B. am Oberarm zu treffen, begebe ich mich in große Gefahr, dass der Gegner diese Lücke für einen Angriff ausnutzt. Dies passiert z.B. regelmäßig wenn der Verteidiger versucht, den Angriff „beiseite zu drücken“, da er zu bequem ist, sich selbst zu bewegen bzw. sich bewegen zu lassen.

Merke:
Eine Vergrößerung der Distanz wirkt als defensiv-taktische Handlungsalternative. Das gilt sowohl in der normalen Kommunikation, wie auch im BlitzDefence. Durch die Vergrößerung der Distanz wird der Stressfaktor, der durch die zu geringe Distanz entsteht reduziert.

Sifu Thorsten de Vries
3. Lehrergrad WingTsun