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Statistik und Ammenmärchen oder wie das Zebra dem Krokodil ins Auge beißt! Teil 1

Tansania. Gestern geschah an einem Wadi eine für die Tierwelt ungeheuerliche Kräfteverschie-bung: Massai konnten beobachten, wie sich ein Zebra, das sich schon in den scharfen Fängen eines Krokodils befand und unter Wasser gerissen zu werden drohte, mit einem gezielten Biss ins Auge befreien konnte ...

So oder ähnlich hätte die Zeitungsmeldung zu der Tierdokumentation, welche ich neulich im Fernsehen bewundern durfte, aussehen können. Das Opfer wehrt sich gegen den Täter und kommt tatsächlich mit dem Leben davon. Die Schwächere gegen den Stärkeren? Schier unmöglich und scheint fast wider der natürlichen Ordnung! Und so kommen wir auf direktem Wege zum

Ammenmärchen:

Quasi revolutionär und aufrührerisch die Geschichte von dem Zebra, wenn man sich all die Ammenmärchen betrachtet, die den Frauen – den vermeintlich Schwächeren – seit jeher eingeimpft wurden und leider auch noch werden. Welch ein Frevel, denn die Statistik beweist, dass die gut gemeinten Ratschläge mit der Realität nicht mehr vereinbar sind. Der schlimmste aller Ratschläge ist natürlich der, sich nicht zu wehren. „Vergewaltigt wirst Du so oder so, aber
wenn Du still bist, bleibst Du vielleicht unverletzt (...), am Leben etc.“ Weisheiten wie: „Frauen sind nun mal von Natur aus schwächer, die haben keine Chance, wenn ein Typ richtig zuschlägt, egal ob sie mit den Armen und Beinen fuchteln können ...“, „Du bist eine Frau und traust Dich ja doch nicht zu schlagen!“, „Zieh’ keine kurzen Röcke an, dann passiert Dir auch nichts“, runden das Bild ab.
Bei häuslicher Gewalt heißt es meist: „Sieh’ doch einfach zu, dass Du ihn nicht ständig provozierst, Du weißt doch wie er ist.“ Ein Therapeut hat dies bei einem deswegen zunächst „verstoßenen“ Mann von einer Bekannten auf den Punkt gebracht: „Sie müssen sich ja auch wehren, wenn Ihre Freundin sie ständig provoziert!“ Leider hat diese Frau – sie ist Psychologin – irgendwann tatsächlich daran geglaubt, dass sie sein Ausflippen auch verdient habe, weil sie ihn ja so schlecht behandelte. So dass sie nun wieder mit ihm zusammen ist und sein Spiel mitspielt.
Und warum? Urschuld der Frau?

Eine andere Freundin, auch Psychologin und dazu in meinen Augen eine sehr starke und kluge Frau, die sich von den Männern nichts gefallen lässt, diskutierte mit mir sehr ernsthaft über besagtes – in meinen Augen gefährlichstes – Ammenmärchen: „Wehr’ Dich nicht, dann geht’s.“ „Augen zu und durch!“ Auch sie bestätigte mir, dass sie ohne Kenntnisse und Beherrschung von Selbstverteidigung Gleiches denken würde. Dabei fehle es ihr nicht an Ideen, den Aggressor auszuschalten, sondern an Mut, Vertrauen in die eigene Kraft und Überwindung der Hemmschwelle, jemandem weh zu tun, obwohl Frau gerade im Begriff ist, selber massiv verletzt zu werden. In ihrer Fantasie sieht sie sich natürlich als aggressive Kampfmaschine a la Luci Lu, aber was wäre in echt? Sie traut sich zu, vollkommen gelähmt vor Angst zu sein.
Und warum? Fehlende Techniken und Hemmschwellen.

Eine meiner besten Quellen aus erster Hand waren meine beiden Kommissarinnen – zwei Frauen, die während ihrer Ausbildung bei der Polizei meine WT-Schülerinnen waren und mich regelmäßig mit den neuesten Polizeistatistiken versorgten. Sie waren Frauen und sie kannten die Polizeistatistiken, waren demnach aufgeklärt. Eine sehr unübliche Kombination. Das Interessante an den beiden war, dass sie genau die gleichen Schlaghemmungen und Ängste hatten, wie all die anderen Frauen, die mit dem Training begannen. Gegenwehr könne nur provozieren oder von vornherein wirkungslos und sinnlos sein, die Brutalität und Tötungsabsicht des Täters könnte sich durch Gegenwehr erhöhen (ah, die schönen Ammenmärchen) und überhaupt, einem die Augen auszustechen, wäre doch ekelig, das könnten sie nicht.
Und warum? Typisch geschlechtspezifische Erziehung, Ängste und Hemmungen. 

Wütend macht es mich und es ist außerdem frustrierend für neue Teilnehmerinnen, wenn diese von ihren Partnern zu Hause erzählen: jene stimmen nämlich ganz gönnerhaft dem neuen Hobby ihrer Freundin prinzipiell zu, aber setzen natürlich nach: „Gegen die Kraft eines Mannes hast Du im Ernstfall sowieso keine Chance! Zeig’ doch mal, was Du schon gelernt hast!“ Natürlich können sie nach zwei oder drei Stunden dem Mann noch nicht überlegen sein und er hat scheinbar gewonnen mit seinen Einschüchterungsversuchen. Noch.
Und warum? Resignation vor der physischen und psychischen Omnipotenz des Mannes?

Der scheinbare Gewinn, einer noch brutaleren Gewalttat entkommen zu sein, kommt uns Frauen unbewusst entgegen. Denn die Angst zu kämpfen ist größer als die Angst zu leiden.
Wie kommt es aber, dass wir immer noch die Opferrolle für uns beanspruchen und was kann dagegen unternommen werden?

Bevor wir uns den Lösungsvorschlägen widmen, müssen wir natürlich zunächst die übliche Ursachenforschung betreiben. Da ich mich auf das Training mit Frauen konzentriert habe und hier erörtern möchte, wie speziell Frauen geholfen werden kann, aus ihrer Opferrolle zu schlüpfen, möchte ich auf die psychischen Nöte und erlittenen Kindheitstraumata von gewalttätigen Männern, bzw. misshandelten Jungen nicht eingehen. Das würde den Rahmen sprengen und muss an anderer Stelle erörtert werden.

Text: Gudrun Glaser, 2. TG WT
(Schriftliche Arbeit zum 2. Technikerprüfung)