Editorial

Wir dürfen den Gegner nicht als Störer und Verhinderer „sauberer Techniken“ denken

Wer beinahe religiös an die Existenz „sauberer Techniken“ glaubt, weil er sie sich in mühevoller Arbeit „eingeschliffen“ hat, möchte diese im Ernstfall „anwenden“ (Anwendungsdenken von „Techniken“, z.B. Bunkai-Denken im Karate) und an den Mann bringen. Er hat dabei die Illusion und möchte sie sich erhalten, dass er der einzig Handelnde im Kampf ist. Dies wird (z.B. im Karate) auch durch das durchaus sinnvolle, aber falsch verstandene Motto unterstützt: „Mache deine Kata, so als ob da Gegner wären, mit denen du kämpfst, aber kämpfe mit den Gegnern so, als ob sie nicht vorhanden wären!“

Leider ist es ein Wunschdenken, dass das Bewegungsgeschehen im realen Kampf ein abwechselnder Abtausch von Techniken ist, wobei einer seine Aktion vorträgt und dann verharrt, wenn der andere an der Reihe ist. Mit diesem Denken wollen die Asiaten eine vermeintliche Ordnung in das vermeintliche Chaos des Kampfes bringen, das ihnen Angst macht. In Wirklichkeit ist der Kampf kein Chaos. Aber wir haben wir es mit einer hohen Stufe von Komplexität zu tun, es liegt eine Interdependenz und wechselseitige Beeinflussung vor und die Beteiligten können sich meistens gleichzeitig bewegen und sie werden es in der Regel auch tun. Außerdem wird ein jeder die Absichten, Angriffe und Abwehren des anderen zu durchkreuzen versuchen, „denn alles, was der andere vor hat, muss ja grundsätzlich schädlich sein und verhindert werden“.
Wer dezidierte und vorher geplante Aktionen, als fixe „Techniken“ zur Anwendung bringen will, wird sich von den Aktionen des Gegners darin behindert und gestört sehen. Wenn seine Aktionen auf den Widerstand und die Härte des Gegners (= dem der uns entgegen steht) stößt, wird er reagierend auf den Widerstand des anderen selbst hart.
„Kämpfe so, als ob da kein Gegner wäre“ ist anders zu verstehen. Zunächst einmal sollen wir emotionslos kämpfen, denn Angst und Wut machen beide steif.
Zum anderen sollen wir im Kampf den anderen nicht als „Gegner“, der uns entgegensteht und der etwas gegen uns und gegen den wir etwas machen) sehen. Wir müssen damit aufhören, den Gegner als Störer und damit als Verhinderer unserer vorgeplanten Aktionen oder einer durch uns erfundenen Ordnung zu betrachten. Aber damit das möglich wird, dürfen wir gar nicht mehr in Plänen und vorfabrizierten Techniken denken. Wer keine bestimmte Bewegungsfolge „auf dem Zettel hat“, die er um jeden Preis „zur Anwendung bringen“ will, der kann sich durch die Bewegungen des anderen auch nicht sabotiert oder „gestört“ fühlen, denn er hat ja keinen Plan, keine noch so kleine vorgefasste Idee – nicht einmal eine „kleine“ (SiuNimTau). Im WT lernt man, um Frederic Vester zu paraphrasieren, die Ebene der Strategie und der Prinzipien mit der Ebene des taktischen Handelns zu verflechten und zu den Möglichkeiten der „Poiesis“, des spontanen Erkennens durch Tun, zu gelangen.
„Störungen“ sind nur ein Wort. Sie sind weder negativ noch positiv; es gibt sie nur für jemand, der in falschen Kriterien denkt und eigentlich neutrale und wertfreie Kräfte, die in irgendeiner Form auf ihn einwirken, bewertet. Erst wenn wir der auf uns einwirkenden Kraft des anderen den Begriff „Störung“ anheften, bekommt sie etwas Negatives. In Wirklichkeit kommt es darauf an, was wir mit dieser Kraft anfangen, wie wir sie flexibel integrieren. Nur wenn wir etwas beabsichtigen und uns nicht von dem Plan abbringen lassen wollen, ist es für uns eine Störung.
Ebenso wie wir im WT den Gegner nicht bei seinem Vorhaben stören – also seine Kräfte nicht mit Gewalt auf Null bringen (sondern nutzen) oder seine Zielrichtungen nicht ändern (sondern uns als sein Ziel entfernen) –, betrachten wir alles, was er vorhat oder macht, nicht als negativ und als Störung.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht

Auszug aus dem „Kampflogik“-Band Theorie, der als nächster Band der Reihe 2012 erscheinen wird