WingTsun

WT und Feldenkrais

Stärkerer Fauststoß, schnellerer Schritt, weicherer Bong-Sao – eine Bewegung anders, „besser“ zu machen bedeutet, vorhandene und gewohnte Bewegungsmuster zu verändern. Neue Möglichkeiten müssen gefunden und erlernt werden. Doch wie lernt man? Welchen Prinzipien folgt „Lernen“? Die Feldenkrais-Methode nutzt Bewegung, um „Lernen zu lernen“ ....

Die nach ihm benannte Feldenkrais-Methode wurde vom israelischen Physiker Moshe Feldenkrais entwickelt. Feldenkrais war ein begeisterter Kampfsportler, der in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Buch über Jiu-Jitsu geschrieben hatte, das zur Standardaustattung der ersten israelischen Armee gehörte. Er war Schüler von Jigaro Kano, dem Begründer des modernen Judo, einer der ersten Judo-Schwarzgurtträger im Westen und gründete den französischen Judoverband.
Aufgrund einer schweren Knieverletzung konnte Feldenkrais kaum noch gehen. Deswegen begann er, nach Wegen zu suchen, seine Bewegungsfreiheit wieder zu gewinnen. Auf Grundlage der neuesten Erkenntnissen über Anatomie, Physiologie, Biologie und Psychologie, seinem ausgeprägten Wissen über Biomechanik und seinem sensorischen Feingefühl, experimentierte er mit den Bewegungsabläufen seines eigenen Körpers und brachte sich selbst wieder das Gehen bei.
Das Ergebnis seines Forschens mit sich selbst war der Anfang der Methode, die später nach ihm benannt wurde.

Die Feldenkrais-Methode dient in erster Linie dazu, um zu verstehen, was Lernen in Bezug auf Bewegung bedeutet. Jeder, der eine neue Sportart oder Bewegungskunst – egal, ob WingTsun, Fußball, Klettern oder Tanzen – erlernt, steht meistens vor demselben Problem: neue Bewegungsmuster müssen erlernt und/oder verbessert, mehr Leistung soll durch weniger Energieaufwand erzeugt werden. Meist geschieht dies durch Wiederholungen vorgefertigter Bewegungsabläufe. In der Feldenkrais-Methode stehen nicht die Abläufe und Formen dieser Bewegungen im Vordergrund, sondern die Art und Weise wie sie wahrgenommen werden.
Mosche Feldenkrais sagte einmal: „Ich will keinen beweglichen Körper, sondern ein bewegliches Gehirn“ In diesem Zitat wird Feldenkrais’ Ansatz deutlich: Bewegungsgewohnheiten und -muster werden vornehmlich über das Nervensystem und das Gehirn gesteuert. Folglich können Veränderungen von Bewegungsverhalten am besten über dieselben erreicht werden. Vielfaches Wiederholen bestimmter Bewegungen ist zwar auch eine Möglichkeit, jedoch weder die effizienteste noch die strukturell tiefgehendste.
In der Feldenkrais-Methode wird versucht, sich die Funktionsweise des Nervensystems zu Nutze zu machen und so einen schnelleren und umfassenderen Lernfortschritt zu erzielen.

Zwischen der Herangehensweise der Feldenkrais-Methode und der des WingTsun lassen sich interessante Parallelen feststellen. Das Kennenlernen der Feldenkrais-Methode kann einem WT-ler wertvolle Aspekte für sein WT-Training aufzeigen.

Sifu Martin Wagner, 4.TG WT, ist seit über 20 Jahren als WT-Lehrer und seit 10 Jahren als Feldenkrais-Pädagoge tätig. Für ihn, der selbst über das WT zum Feldenkrais fand, erwies sich die Feldenkrais-Methode als hilfreiches Werkzeug, um die Komplexität der Gelenkstellungen und Wirkungsweise von Bewegungsmustern transparenter zu machen.

Um die Wirkungsweise der Feldenkrais-Methode kennen zu lernen, stellt Sifu Martin Wagner in den nächsten Ausgaben der WTW online einige WT-spezifische Übungen vor.

Übung 1: Lockere Kettenfauststöße

Um gute Resultate zu erzielen, sollte Folgendes beachtet werden:

  • Die meisten Feldenkrais-Anwendungen werden im Liegen gemacht, so können parasitäre Muskelspannungen verhindern werden. Die eigentliche Absicht einer Bewegung wird dadurch klarer.
  • Die Bewegung so langsam wie möglich ausführen, um entdecken zu können, wie sie sich anfühlt.
  • Befreie Dich von der eigenen Kraft, die Leichtigkeit der Bewegung steht im Vordergrund.
  • Jegliche Anstrengung vermeiden.
  • Pausen einlegen, um Veränderungen wahrnehmen zu können.

Es ist nicht leicht, als Ungeübter eine Feldenkrais-Übung ohne Anleitung durch einen Feldenkrais-Pädogogen oder Audio-Unterstützung auszuführen.
Lies darum den folgenden Text ein paar Mal durch und mache Dir ein Bild, welche Ansprüche erforderlich sind. Denke zuerst erst über den Ablauf nach, bevor Du mit der Handlung beginnst.
(Alternativ könnte man den Text laut vorlesen und beispielsweise mit einem Diktiergerät aufnehmen, so dass die Übung anschließend gehört werden kann.)

Die folgende Lektion soll dazu dienen, den WT-Kettenfauststoß leichter werden zu lassen.

Um die verschiedenen Phasen der Übung zu verdeutlichen, werden sie im folgenden Text unterschieden.

Kursiv = Wahrnehmen und Spüren
Fett = Aktive Bewegung

Referenzbewegung:

Stelle Dich in den IRAS und beginne lockere Kettenfauststöße zu machen. Mache sie so, dass Du das Gefühl hast, sie lange ausführen zu können, ohne zu ermüden.
Beobachte wie Du die Kettenfauststöße machst; gibt es einen Unterschied zwischen dem rechten und dem linken Fauststoß?
Was müsste Deiner Meinung nach leichter gehen?

Lege Dich auf den Boden, auf den Rücken, die Arme liegen bequem neben dem Körper.

Scannen:

  • Bringe Deine Aufmerksamkeit auf die Rückseite Deines Körpers.
  • Wie ist der Kontakt der Rückseite mit dem Boden wahrnehmbar?
  • Lenke nun Deine Aufmerksamkeit auf Dein rechtes Schulterblatt.
  • Wie kannst Du Dein rechtes Schulterblatt wahrnehmen, wie ist der Kontakt des rechten Schulterblattes auf dem Boden?
  • Bringe nun Deine Aufmerksamkeit auf Deinen rechten Ellbogen.
  • Wie ist der Kontakt mit dem rechten Ellbogen auf dem Boden, wie kannst Du das wahrnehmen?
  • Gehe nun weiter den rechten Arm hinunter und komme mit Deiner Aufmerksamkeit zu Deinem rechten Handgelenk.
  • Hat Dein rechtes Handgelenk Kontakt zum Boden? Wenn ja, welcher Teil hat Kontakt zum Boden?
  • Steht Dein rechtes Handgelenk in der Luft? Wenn ja, wie weit ist Dein rechtes Handgelenk in der Luft?
  • Wie liegt Deine Hand auf dem Boden? Mit der Handfläche zum Boden zeigend? Mit der Handfläche in Richtung Zimmerdecke zeigend? Oder liegt Deine rechte Hand mehr auf dem kleinen Finger und die Handfläche zeigt in Richtung Deiner rechten Körperseite.

Wiederhole den letzten Absatz nochmals mit Deiner linken Seite.

  • Vergleiche beide Seiten miteinander, kannst Du Unterschiede feststellen?
  • Ist ein Arm näher am Körper als der andere oder weiter weg?
  • Ist ein Arm länger als der andere?
  • Ist ein Arm schwerer?
  • Gibt es Unterschiede wie die Hände auf dem Boden liegen?

Kurze Pause.

Die Pausen werden im Feldenkrais genutzt, um nachzuspüren, welche Effekte die letzten Bewegungen erzeugt haben. Und um eventuelle Anstrengungen, die sich unbewusst aufgebaut haben, wieder abklingen zu lassen

Grundstellung (Siehe Bild 1):

  • Lege Dich nun auf Deine rechte Seite, lege beide Beine aufeinander und winkle sie an,
    ungefähr so, als würdest Du auf einem Stuhl sitzen.
  • Du kannst Deinen Kopf auf den rechten Arm legen, den Du nach oben ausgestreckt hast.
  • Stelle Deine linke Faust mit der Fauststoßfläche bequem vor Dich auf den Boden.
  • Stelle den linken Arm so auf, dass der linke Unterarm senkrecht stehen kann und die Faust mit der Innenseite zu Dir zeigen kann.
  • Versuche verschiedene Stellungen; stelle die Faust etwas weiter von Dir weg und dann vielleicht etwas näher zu Dir hin und stelle sie dann an den Platz, an welchem sie am einfachsten, ohne große Verspannung stehen kann.
  • Achte darauf, dass die Faust über dem knöchernen Teil der Hand steht, um ohne großen Muskeleinsatz stabil stehen zu können. Der Unterarm steht genau senkrecht über der Faust.

Aktion:

  • Beginne nun sehr, sehr langsam den Ellbogen in Richtung zu Deinem Körper zu bewegen; mache die Bewegung nicht zu groß.
  • Lasse Dein ganzes Handgelenk weich sein, so dass die Faust auf dem Boden ruhig stehen kann, während sich Dein Unterarm etwas zu Dir hin bewegt und wieder zurück in die senkrechte Stellung kommt.
  • Mach das einige Male.
  • Beobachte den stehenden Teil der Faust und den sich bewegenden Teil des Ellbogens.

(Siehe Bilderfolge 2)

Kurze Pause, lege den linken Arm am besten auf Deine obenliegende Körperseite.

Komme in Deine Grundstellung zurück, die linke Faust steht wieder vor Dir auf dem Boden, der Unterarm steht senkrecht.

  • Beginne wieder, Deinen linken Ellbogen etwas zu Dir zu bewegen und wieder zurück zu Mitte zu bringen.
  • Beobachte einmal das Verhältnis zwischen der Bewegung des linken Ellbogen und der Bewegung im Handgelenk, während Du den linken Unterarm bewegst.
  • Achte darauf, die Bewegung nur soweit auszuführen, dass sich keine Anstrengung bemerkbar macht.
  • Bewege Dich weiter und komme mit Deiner Aufmerksamkeit zu Deiner linken Schulter, zu Deinem linken Schultergelenk.
  • Wie kannst Du dass Verhältnis der Bewegung zwischen dem linken Handgelenk, dem linken Ellbogen und der Bewegung in der linken Schulter wahrnehmen?
  • Durch welchen Teil wird die Bewegung limitiert?
  • Könnte sich der Ellbogen weiter bewegen?
  • Gibt es eine Begrenzung in Deinem Handgelenk?
  • Beobachte, wie Du Deine Atmung wahrnimmst; kannst Du Dich bewegen, ohne die freie Atmung zu unterbrechen oder zu verändern?
    (Wenn es nicht geht, mache eine Pause und fange wieder an; mache die Bewegung noch langsamer und kleiner, bis Du die Bewegung unabhängig von der Atmung ausführen kannst.)

(Siehe Bilderfolge 2)

Pause, lege den linken Arm auf Deine obenliegende Körperseite.

  • Komme in Deine Grundstellung zurück, die linke Faust steht wieder vor Dir auf dem Boden, der Unterarm steht senkrecht.
  • Bewege nun wieder den Unterarm, aber dieses Mal etwas weg von Deinem Körper.
  • Achte auch hier darauf, dass Du die Bewegung sehr, sehr langsam ausführst.
  • Achte auf die Begrenzung der Bewegung im Handgelenk, respektiere die Grenze.
  • Wie bewegt sich Dein Ellbogen im Raum?
  • Wie groß ist die Bewegung des Ellbogens in Bezug zu der Bewegung im Handgelenk?
  • Wie ist das Verhältnis zwischen der Bewegungsfähigkeit in Deiner Schulter und Deinem Handgelenk?
  • Selbst wenn Du Dich in der Schulter weiterbewegen könntest, tue es nicht, respektiere die Bewegungsfreiheit im Handgelenk.

(Siehe Bilderfolge 2)

Pause, lege den linken Arm auf Deine obenliegende Körperseite.

  • Komme in Deine Grundstellung zurück, die linke Faust steht wieder vor Dir auf dem Boden, der Unterarm steht senkrecht.
  • Bewege dieses mal Deine Ellbogen in Richtung Deiner Füße nach unten.
  • Bewege Dich sehr, sehr langsam in die Richtung, um die Grenze in dem linken Handgelenk spüren zu können.
  • Achte darauf, dass während Du den Unterarm bewegst, Dein Handgelenk weich sein kann; vermeide unnötige Muskelspannung um das Handgelenk herum, achte darauf, dass Du Deine Aufmerksamkeit mehr dem knöchernen Teil des Armes und der Faust widmest als dem muskulären Anteil.
  • Beobachte wieder die Freiheiten im Handgelenk, im Ellbogengelenk und im Schultergelenk.
  • Wie frei ist Deine Atmung?

(Siehe Bilderfolge 3)

Pause, lege den linken Arm auf Deine obenliegende Körperseite.

  • Komme in Deine Grundstellung zurück, die linke Faust steht wieder vor Dir auf dem Boden, der Unterarm steht senkrecht.
  • Bewege nun Deinen Ellbogen in Richtung zu Deiner linken Schulter. (Siehe Bilderfolge 3)
  • Bewege Dich sehr, sehr langsam in die Richtung, um die Grenze in dem linken Handgelenk wieder spüren zu können.
  • Die Freiheitsgrade in Deinem Handgelenk sind in jeder Richtung kleiner oder größer, finde heraus, wie klein oder wie groß der Freiheitsgrad in dieser Richtung ist.
  • Kannst Du auch hier spüren, wie das Verhältnis der Bewegungsmöglichkeit in der Schulter im Bezug zum Handgelenk ist?
  • Selbst wenn Du Dich in der Schulter wesentlich weiter bewegen könntest,als im Handgelenk, tue es nicht, bewege Dich nur soweit, wie es der Freiheitsgrad im Handgelenk zulässt, ohne dass Du Dich in irgendeiner Form anstrengen musst.
  • Pause, lege den linken Arm auf Deine obenliegende Körperseite.
  • Komme in Deine Grundstellung zurück, die linke Faust steht wieder vor Dir auf dem Boden, der Unterarm steht senkrecht.
  • Beginne nun den Unterarm kreisen zu lassen. (siehe Bild 4)
  • Achte darauf, dass Du den Kreis nur so groß machst, dass er rund sein kann.
  • Achte darauf, dass die stehende Faust ruhig auf dem Boden bleibt, während der Unterarm kreist.
  • Beobachte einmal das Kreisen des Ellbogens mit der Kreisbewegung im Handgelenk.
  • Vergleiche nun die Bewegung, die im Ellbogen stattfindet mit der Bewegung, die Du in der Schulter machst?
  • Beobachte das Verhältnis der kreisenden Bewegungen zwischen dem Handgelenk, dem Ellbogen und der Schulter.
  • Ändere die Kreisrichtung.
    Was ist anders, wenn Du entgegengesetzt kreist?
  • Ist es leichter in diese Richtung zu kreisen?
  • Ändere noch mal die Kreisrichtung.
  • Lass das, komme in die Rückenlage und beobachte die Unterschiede, die Du jetzt wahrnehmen kannst.
  • Wie ist der Unterschied zwischen Deinem rechten Arm, deiner rechten Hand, Deinem rechten Handgelenk?
  • Wie lang ist Dein rechter Arm, wie lange ist Dein linker Arm usw.?
  • Komme zum Stehen und beginne wieder mit der Referenzbewegung Kettenfauststöße.
  • Wie bewegt sich nun der rechte Arm?
  • Wie bewegt sich der linke Arm?

Ein sehr wichtiger Aspekt bei der Ausübung eines WT-Fauststoßes sind weiche Handgelenke. Steife Handgelenke hemmen die Gesamtbewegung des Arms erheblich und führen oft zu steifen Schulterbewegungen.

Für die meisten wird nun ein mehr oder weniger großer, qualitativer Unterschied in der Bewegungsweise der beiden Arme wahrnehmbar sein. Je langsamer und unangestrengter die Übung ausgeführt wurde, desto größer ist häufig der Effekt. Manch einer ist erstaunt wie groß die Veränderungen sein können, die ganz ohne Anstrengung und Wiederholung erreicht werden.
Ein wesentliches Merkmal der Feldenkrais-Methode ist es, vergleichbare Unterschiede zu erzeugen. Durch direktes Vergleichen wird ein Lernprozess in Gang gesetzt. Dieses Lernen geht weit über die unmittelbare bewusste Wahrnehmung hinaus. Verändertes Bewegungsverhalten wird oft zufällig noch einige Tage nach einer Feldenkrais-Übung festgestellt.

Interessant:
Geht man die ganze Übung für die andere Seite Schritt für Schritt nur in der Vorstellung (ganz ohne Bewegung) durch, so genügt dies oft, um den gleichen Effekt zu erzielen, der vorher mit Bewegung erreicht wurde.
Bewegung ist eben Kopfsache!

 

Text + Fotos:
Sifu Martin Wagner, 4. TG WT
Markus Senft