WingTsun

Warum sollte ich WingTsun lernen?

Vielleicht ist es dem einen oder anderen am Anfang auch so oder ähnlich ergangen: Ich stand die ersten Male beim Training, ließ mich von fremden, teils schwitzenden Menschen anfassen, roch ihren Atem, ließ zu, dass sie in meine Komfortzone eindrangen. Ich wurde herumgeschubst, gestoßen, zu Boden geworfen und alles vor den Augen weiterer, fremder Menschen, deren Blicke Häme oder Mitleid bedeuten mochten. Am anderen Ende des Raumes die Fortgeschrittenen, die mit scheinbar traumwandlerischer Sicherheit ihre Bewegungen vollführten, als seien sie ihnen in die Wiege gelegt worden. Mir als pummeligem Endvierziger erschien es, als würde die Entfernung zu ihnen nicht wenige Meter, sondern viele Lichtjahre betragen.

Mittlerweile bin ich seit fast drei Jahren dabei. Die Rituale sind mir vertraut, die Gesichter nicht mehr fremd. Ich werde zwar immer noch herumgeschubst, gestoßen und zu Boden geworfen. Aber ich habe gelernt, wieder aufzustehen. Ich weiß nicht, was ein Neuer denkt, wenn er morgen am Boden liegt und versucht, meinen Gesichtsausdruck zu deuten. Ich werde ihm die Hand reichen und ihm wieder auf die Beine helfen, so wie es die Regeln und der Anstand gebieten. Ich habe zwei Prüfungen absolviert und bereite mich auf die nächste vor. Ein Ende ist nicht in Sicht – der Weg ist das Ziel!
Und doch hatte ich Zweifel: Wenn ich als Sportler für Olympia trainiere, geschieht dies zielgerichtet.

Der Weg und der Zeitpunkt sind gesetzt und ich kann jede meiner Bewegungen mit chirurgischer Präzision planen. Beim WingTsun hingegen werden wir auf eine Situation vorbereitet, die möglicherweise – und hoffentlich! – niemals eintritt. Klar muss mir aber auch sein: Allein die Hoffnung, niemals angegriffen zu werden, schützt mich nicht. In jüngeren Jahren trieb ich mich an Orten herum, die wie geschaffen waren für Angriffe verhaltensauffälliger Testosteron-Springbrunnen. Heute meide ich solche Orte. Ich sehe auch keine Notwendigkeit mehr, mich dorthin zu begeben. Wozu also dann WingTsun lernen?
Außerdem beschäftigte mich die Frage: „Sind Prüfungen eine realistische Simulation für Gefahrensituationen?“ Müsste nicht vielmehr eine Gefahrensituation (ohne mein Wissen!) inszeniert werden, um herauszufinden, ob ich mich oder andere auch in der Realität wirksam verteidigen kann oder angesichts eines Adrenalinmonsters trotz meiner implantierten Reflexe in Schockstarre verfalle?

Eine Tages wurden meine Zweifel dann allerdings auf eine ganz andere als die erwartete Art und Weise zerstreut: in einem Kampf, realistisch und unvorbereitet. Aber es war kein Kampf auf einem abgelegenen Parkplatz, in einer Bahnhofsunterführung oder auf dem nächtlichen Weg nach Hause, sondern einer gegen einen äußerst aggressiven Angreifer – in einem Firmen-Meeting.
Kaum hatte das Treffen begonnen, setzte mein Gegner zum verbalen Rundumschlag an, verspritzte sein gesamtes Giftarsenal an Killerphrasen und Anfeindungen. Er wurde laut, persönlich und gab anderen keinen Raum. Ich ließ ihn gewähren, tänzelte, wich aus, gab ihm Zeit, sich auszupowern – und als ich die Gelegenheit sah, stieß ich vor. Nach kurzem, aber heftigem Schlagabtausch hatte ich die Auseinandersetzung, den Kampf, für mich entschieden. Ich hatte meine Interessen durchgesetzt, Territorium erobert und zwei Kollegen dauerhaft Luft zum Atmen verschafft. Und das alles, ohne auch nur die Hände zu erheben. Ich behandelte meinen Gegner nach dem Disput weiterhin mit Respekt und er dankte es mir schließlich ebenso.

Im Laufe meines Lebens habe ich einige Menschen kennen gelernt, auf die die Bezeichnung „geborenes Opfer“ zutrifft. Die mit gesenktem Kopf durchs Leben gehen und sich dafür entschuldigen, dass sie ihrem Gegenüber auf Nachfrage nicht die aktuelle Uhrzeit nennen können, weil sie keine Uhr tragen.

Ich habe am Tage des Kampfes gelernt: WingTsun ist auch ein innerer Weg. Es sind nicht nur Reflexe und schnelle, geschmeidige Bewegungen des Körpers. Es sind auch die Körperhaltung, das erhobene Haupt, der sichere Gang und die feste Stimme. Außerdem die Fähigkeit, NEIN zu sagen und im Geiste einen Strich ziehen zu können, der die Grenze markiert, die von einem Widersacher nicht überschritten werden darf: Die Kunst, nicht nur sein Nasenbein, sondern auch seinen Standpunkt verteidigen zu können. Nicht überheblich, sondern überlegen!

Dafür lerne ich WingTsun!

Text: Peter Hostermann (51)
Fotos: Sifu Rudolf Hoffmann, WingTsun-Schule Hannover-Linden